Seit Jahren wird die deutsche Bildungsmisere öffentlich diskutiert. Die Ergebnisse, die die PISA-Studien für die Schüler an deutschen Schulen ausweisen, sind kein Grund zur Freude.
Ständig werden von Politik, Elternvertretern, der Lehrerschaft und nicht zuletzt den Schülern Bildungsreformen gefordert. Es wird viel Steuergeld in digitale Schulinfrastruktur investiert und jedes Bundesland legt regelmäßig Reformpläne zum Bildungswesen vor. Diese werden – im Licht der Ergebnisse der PISA-Studien der OECD betrachtet – entweder nicht oder allenfalls mehr oder weniger ergebnislos umgesetzt.
Vor allem die derzeit herrschende sogenannte „demokratische Mitte" beruft sich auch in ihren Bildungsbemühungen gerne auf europäische Werte und Traditionen. Aber schon bei nur oberflächlicher Recherche stellt man fest, daß statt dessen vielerorts grün-linke und woke Manipulation und einseitige Ideologisierung im Schulalltag an der Tagesordnung sind. Nicht selten ist es um die politische und weltanschauliche Neutralität von Lehrern und sogar der Schulaufsicht schlecht bestellt. Das soll hier nun aber nicht Thema sein.
Soweit es in unseren Bildungsplänen noch um Faktenwissen geht, stopfen unsere Schüler den geforderten Lernstoff im Wege des Bulimie-Lernens bis zur nächsten Klassenarbeit unverdaubar in sich hinein, um ihn dann danach in kürzester Zeit wieder zu vergessen. Was die PISA-Studien unwiderlegbar beweisen.
Wenn wir von Bildung sprechen, sollten wir nicht nur darauf abheben, was Schüler inhaltlich lernen. Schüler müssen natürlich irgendwann im Laufe ihrer schulischen Ausbildung wissen, daß es auf der Erde keine Länder gibt, die von irgendeinem beliebigen Ort dieser Welt hunderttausende von Kilometern entfernt liegen können, daß eine 360°-Wendung keine Richtungsänderung bewirkt oder daß Impfungen gelegentlich Nebenwirkungen haben. Das ist alles gutes und wichtiges Grundlagenwissen, Teil einer unverzichtbaren Allgemeinbildung.
Über solch alltägliches Weltwissen hinaus muß Schülern jedoch vermittelt werden, daß und wie sie in allen Lebenslagen ergebnisoffen Fragen stellen können und daß sie das auch – geradezu unerbittlich – tun sollen. So erziehen wir zukünftige Generationen zu ergebnisoffenem Denken, das nicht nur in Wissenschaft und Politik unverzichtbar ist, sondern auch im allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs.
Es geht nicht darum, daß Schüler Dinge, die sie noch gar nicht wissen können, hinterfragen, sondern darum, ihnen zu vermitteln, daß es gut und erwünscht ist, wenn sie der Welt wißbegierig und mit Neugierde begegnen. Diese Haltung ist Kindern natürlicherweise sowieso eigen, solange, bis sie das faktenbetonende Bildungssystem zermürbt und gebrochen hat.
In der Familie muß das Gespräch mit den Kindern am Mittagstisch also so geführt werden, daß es nicht etwa heißt: „Was hast Du heute in der Schule gelernt?" sondern: „Welche Fragen hast Du heute gestellt?" – So wird die Bedeutsamkeit des Fragens selbst zum Erziehungsinhalt.
Durch neugierige Fragestellungen geben wir unserem bereits erworbenen Wissen und unserer bisherigen Erfahrung Raum, erproben bereits Gelerntes im Diskurs und vertiefen Verständnis für Themenfelder und Zusammenhänge. Gerade durch Verständnisfragen verknüpfen wir Gelerntes mit Neuem. Auf diese Weise erkennen wir innere Beziehungen und legen Widersprüche offen. So schaffen wir eine kreative Basis zur Anwendung dessen, was wir gelernt haben. Bildung und Erziehung wird dynamisch und lebendig.
Zu unseren vielbeschworenen „europäischen Werten" gehören ganz bestimmte Bildungstraditionen. Dazu zählen unter anderem die humbold'schen Ideale; gerade sie sollten methodisch in einem sich anhand von Fragen und Antworten entwickelnden Unterricht gefördert werden. Dabei sollten nicht nur die Lehrer Fragen stellen. Vielmehr sollten interessierte Schüler in ihren Gegenfragen auf das Wissen der Lehrer aktiv zugreifen und die Lehrer gegebenenfalls dabei auch fachlich herausfordern. Solche Interaktion hilft den Lehrern, nicht in Routinen zu versinken und fördert auf Seiten der Schüler den Mut zur offenen Diskussion.
Erkenntnisgewinn, Einsicht und Wissen im Wege der Fragestellung zu erschließen, war und ist die Methode des Sokrates. Was wäre europäischer, als den Unterrichtsstoff in einem lebendigen Diskurs zwischen Lehrern und Schülern mittels Fragen und Antworten gemeinsam zu erarbeiten? Dazu bedarf es weder der in Schülerkreisen berüchtigten Arbeitsblätter noch teurer digitaler Technik. Eine Tafel, Kreide, das Wissen um einen geordneten Tafelanschrieb und ein entsprechendes Können, sowie ein offener, freundlicher Geist und gute Umgangsformen auf beiden Seiten reichen aus. Mit diesen einfachen, aber durchaus pädagogisch anspruchsvollen Mitteln verankert die Schule Erarbeitetes, Erfragtes und schließlich Begriffenes tief in Gedächtnis, Geist und Charakter unserer Kinder.
- Baldur Grünzweig